Das kurze Leben und das lange Sterben des Leo Weinhausen

von Matthias Hinrichs

Seit 25 Jahren trägt der Verein Gedenkbuchprojekt Aachen die Namen und die Geschichten der Opfer des Holocaust im Grenzland zusammen. Am 4. April jährt sich der Todestag des Aachener Juden Leo Weinhausen zum 80. Mal. Er starb nach einer dramatischen Odyssee durch halb Europa im KZ Buchenwald.  

Als die ersten Panzer der III. US-Armee am 11. April 1945, knapp vier Wochen vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, im KZ Buchenwald anrollen, erleben dort noch rund 21.000 Menschen den Anfang vom Ende eines unvorstellbaren Martyriums. Für Leo Weinhausen kommt die Befreiung sieben Tage zu spät. Am 4. April 1945, vor genau 80 Jahren, stirbt der gebürtige Aachener mit nur 31 Jahren im berüchtigten Konzentrationslager bei Weimar. Es ist das Ende einer jahrelangen Odyssee, die den jungen Mann aus dem Dreiländereck schließlich auf seinen letzten, qualvollen Weg in den Tod führt.  

Seit dem 9. Juni 2022 ist Leo Weinhausens Name in seiner Heimatstadt wieder präsent. Seinerzeit installierte der Kölner Künstler Gunter Demnig fünf sogenannte Stolpersteine vor dem Haus Südstraße 50. Hinter den Erkerfenstern im ersten Stock des schmucken Altbaus wohnte der gelernte Kaufmann und Landwirt Leo Weinhausen mit seinen Eltern Adele (1887–1943) und Benjamin Weinhausen (1882-1943), einem vordem offensichtlich sehr erfolgreichen jüdischen Viehhändler, sowie seinen Geschwistern Herta (Jahrgang 1909), Auguste (Jahrgang 1912) und Walter (1916-2006).

Die feierliche Verlegung der Gedenksteine hatte die ehemalige Lehrerin Wilma Hoekstra-von Cleef maßgeblich in die Wege geleitet. Sie hat das erschütternde Schicksal der ehemals gut betuchten jüdischen Familie für den Verein Gedenkbuchprojekt Aachen dokumentiert. Auch Jenifer Joyce, eine Urenkelin von Leo und Adele Weinhausen, die in den USA lebt, reiste an, um der Gedenkzeremonie beizuwohnen.

Spätestens, als in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1938 auch die Aachener Synagoge auf Anordnung von höchster Stelle in Flammen aufgeht, entschließen sich die Weinhausens zur Flucht nach Belgien – offenbar Hals über Kopf und praktisch unbemerkt, wie Nachbarn später behaupten. Doch das Exil jenseits der Grenzen des „Großdeutschen Reichs“ wird sich nicht sehr lange als sicher erweisen. 1943, drei Jahre nach dem Beginn der ersten Großoffensive der deutschen Truppen Richtung Westen, werden Leos Eltern verhaftet und in der Kaserne Dossin bei Mechelen interniert. Heute befindet sich dort eine Gedenkstätte zur Erinnerung an die Gräueltaten ihrer uniformierten Landsleute. Am 31. Juli 1943 werden die Eheleute Weinhausen Richtung Polen verschleppt und im KZ Auschwitz umgebracht.

Das Schicksal von Leos Schwester Auguste, die eine Zeitlang mit ihrem Mann in Köln gelebt hat und dann ebenfalls nach Belgien flieht, liegt bis heute weitgehend im Dunklen. Ihr jüngerer Bruder Walter, der ebenfalls Schutz im Nachbarland gesucht hat, kann sich derweil dauerhaft verstecken. Walter Weinhausen gründet eine Familie und erhält 1958 die belgische Staatsbürgerschaft. Er stirbt am 10. Januar 2006. Herta taucht vermutlich ebenfalls in Belgien unter; dokumentiert ist, dass sie 1946 eine Ausreisegenehmigung in die Vereinigten Staaten erhält, wo ihr Ehemann Wilhelm Gans lebt. Sie ändert ihren Vornamen in Jane, den ihrer Tochter Inge in Yvonne. Jane Gans stirbt 1999 in New York.

Auch Leo Weinhausen flüchtet bereits Anfang Dezember 1938 nach Belgien und schon bald weiter nach Frankreich. Auf einem Bauernhof in dem kleinen Ort Fleurance unweit von Toulouse findet er Beschäftigung. Auch nachdem die Nazis den größten Teil des Landes längst besetzt haben, scheint er im verbliebenen Vichy-Rumpfstaat zumindest eine Zeitlang in Sicherheit, zumal sein zupackendes Engagement nach den Recherchen seiner Biografin durchaus geschätzt wird. Nach dem Krieg wird sein ehemaliger Arbeitgeber, Monsieur Suiffet, nicht mit Anerkennung für seinen Helfer sparen. Ihm zufolge hätte Leo durchaus Gelegenheit gehabt unterzutauchen, erzählt Wilma Hoekstra-von Cleef. Nur die Hoffnung, eines Tages „aufrechten Hauptes“ in seine Heimat zurückzukehren, habe ihn offenbar davon abgehalten.

Leo Weinhausens Traum zerbricht am 28. August 1942. Bei einer Razzia wird der junge Aachener mit der markanten Boxernase verhaftet und zunächst in mehreren Straflagern eingesperrt. Am 7. September wird Leo mit dem Transport Nummer 29 Richtung Auschwitz deportiert. Doch bevor der Zug das KZ-Tor mit dem zynischen Schriftzug „Arbeit macht frei“ erreicht, wird er vom Umschlagplatz Kozle aus als Häftling Nummer 178.914 nach Blechhammer verbracht, das später als „Außenlager III“ des berüchtigten Konzentrationslagers seinerseits bedrückende Berühmtheit erlangt. Als Gefangener der sogenannten Dienststelle Schmelt, die abertausende Arbeitskräfte für deutsche Rüstungsfirmen rekrutiert, schuftet er dort unter grauenvollen Bedingungen um sein Leben.

Als die Rote Armee Mitte Januar 1945 immer weiter Richtung Westen vorrückt, wird der „Schmeltjude“ Leo Weinhausen abermals „evakuiert“. Mit rund 56.000 Leidensgenossen muss er sich bei bitterster Kälte einem der berüchtigten Todesmärsche unter den Augen der SS anschließen. Jeder, dem unterwegs auch die letzten Kräfte versagen, wird kurzerhand erschossen. Leo Weinhausen marschiert mindestens bis ins rund 65 Kilometer entfernte Gleiwitz. Dort werden die meisten Häftlinge in Zügen weiter Richtung Westen, bis ins KZ Groß-Rosen verschleppt, andere müssen auch diese, rund 200 Kilometer lange Strecke unter unsäglichen Strapazen zu Fuß bewältigen. Ob Weinhausen unter ihnen ist, ist ungeklärt.

Fest steht: Während die deutschen Truppen von den Alliierten langsam, aber sicher immer weiter zum Rückzug gezwungen werden, tritt Leo Weinhausen am 17. Februar 1945 von Groß-Rosen aus seine letzten Zugreise Richtung Westen an. Er kommt nur bis nach Langenstein-Zwieberge, einem Außenlager des KZ Buchenwald. Dort muss er sich – wiederum gemäß dem grotesken NS-Leitspruch „Vernichtung durch Arbeit“ – im sogenannten „Kommando Malachit“ am Bau einer unterirdischen Anlage beteiligen, in der vor allem Jagdflugzeuge produziert werden sollen. Nach wenigen Wochen verlassen ihn seine letzten Kräfte – und die letzte Hoffnung, irgendwann zurückkehren zu können in seine Geburtsstadt Aachen.

Auf dem säuberlich per Schreibmaschine ausgefüllten Totenschein des jüdischen Buchenwald-Häftlings Nummer 124.831, geboren angeblich am 29. Januar 1916, „Geburtsort unbekannt“, notiert der Lagerarzt handschriftlich nur ein Wort: Pneumonia. „Offiziell“ ist Leo Weinhausen, tatsächlich geboren am 29. Januar 1914, am 4. April 1945 um 20 Uhr an den Folgen einer Lungenentzündung gestorben. Sein Name findet sich bis heute nicht nur auf einem der Stolpersteine vor seinem Elternhaus, sondern auch auf einem Gedenkblatt, das seine Tante Aliza Weinhausen nach ihrer Emigration nach Israel am 20. Oktober 1955 in Yad Vashem, der berühmten Erinnerungsstätte für die Opfer des Holocaust in Jerusalem, einreichte.

25 Jahre Gedenkbuchprojekt Aachen

Vor 25 Jahren haben Bettina Offergeld und Norbert Keufgens den Verein Gedenkbuchprojekt für die Opfer der Shoa in Aachen ins Leben gerufen. 2005 wurde das erste Gedenkbuch mit Biografien von 680 ehemaligen jüdischen Mitbürgern vorgelegt. Auch Wilma Hoekstra-von Cleef engagiert sich von Beginn an für die Initiative. Für ihre Beiträge über die Familie Weinhausen hat die ehemalige Lehrerin in zahlreichen bekannten Dokumentationsstätten wie der Kaserne Dossin im belgischen Mechelen, dem Landesarchiv Dortmund, dem Bundesarchiv in Berlin und den internationalen Arolsen-Archives im nordhessischen Bad Arolsen recherchiert.

Inzwischen warten zahlreiche weitere Biografien, ebenso wie die über die Familie Weinhausen, auf ihre Veröffentlichung. Auch die Online-Ausgabe des Gedenkbuchs ([www.gedenkbuchprojekt.de](https://www.gedenkbuchprojekt.de/)) soll baldmöglichst um zahlreiche weitere Beiträge ergänzt werden, die inzwischen fertiggestellt wurden. Wer den Verein unterstützen möchte, kann sich auf der Homepage informieren. Natürlich kann man auch spenden: IBAN DE22 3905 0000 0047 7136 15 bei der Sparkasse Aachen (BIC AACSDE33XXX).       

Quelle: Aachener Zeitung, 4.4.2025