Die Erinnerung bewahren! Aber wie?
von Herrman-Josef Delonge
Am Donnerstag jährte sich das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa zum 80. Mal. Am 8. Mai 1945 trat die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht in Kraft, die am Vortag in Reims unterzeichnet worden war. Der Tag markiert das Ende von zwölf Jahren nationalsozialistischer Gewaltherrschaft in Deutschland, die Millionen Menschenleben forderte und Europa in Trümmer legte. Und die für den Holocaust, das größte Verbrechen in der Geschichte der Menschheit, verantwortlich war. Dem müssen wir uns stellen.
Dass wir heute vom „Tag der Befreiung“ sprechen, geht vor allem auf die Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag vor dem Deutschen Bundestag zurück. Sie hat die Erinnerungskultur in der Bundesrepublik nachhaltig geprägt. Dass von Weizsäcker für seine Wortwahl damals zum Teil scharf kritisiert wurde, zeigt, wie schwer wir uns in Deutschland mit dieser „Kultur“ getan haben – und es mitunter immer noch tun.
Es hat über Monate viele Gedenkveranstaltungen zu diesem 80. Jahrestag gegeben. Von den offiziellen Reden dürfte nicht viel in Erinnerung geblieben sein. Wer jedoch die Gelegenheit und das Glück hatte, in den vergangenen Wochen und Monaten jüdischen Zeitzeugen begegnen zu können, der wird viel von dem, was er dabei gehört hat, nicht vergessen.
Leon Weintraub zum Beispiel, geboren am 1. Januar 1926 im polnischen Lodz, heute also 99 Jahre alt. Er war im Herbst 1944 bereits dem Tod in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau geweiht. Dank seiner Geistesgegenwart konnte er entkommen. Oder Henriette Kretz. Die heute 90-Jährige musste miterleben, wie ihre Eltern im Sommer 1944 nach Jahren der Unterdrückung und des Versteckens verraten und auf offener Straße von einem deutschen Soldaten erschossen wurden. Kretz und Weintraub haben es sich zur Lebensaufgabe gemacht, vor allem jungen Leuten von ihrem Leben, ihren Befürchtungen und ihren Hoffnungen zu erzählen. Sie haben das anlässlich des Jahrestags auch in unserer Region getan. Wie sie sich dabei – trotz des unermesslichen Leids, das ihnen und ihren Familien angetan wurde – für Menschlichkeit, Verantwortung und Toleranz einsetzen, war beeindruckend, zu Herzen gehend, aufwühlend und irgendwie auch tröstlich.
Es ist gut, dass Gespräche und Begegnungen mit Menschen wie Kretz und Weintraub in vielen Schulen fester Bestandteil der Auseinandersetzung mit der (NS-)Geschichte sind. Denn die ist tatsächlich nie zu Ende aufgearbeitet; von einem „Schlussstrich“, wie ihn viele immer noch und immer wieder fordern, kann und darf also nie die Rede sein. Jeder Generation stellen sich Fragen, auf die sie mit allem Recht Antworten einfordert. Jede Generation muss sich allerdings auch der Verantwortung (nicht Schuld!) stellen, die mit der deutschen Geschichte einhergeht. Verantwortung dafür, dass sich das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte nicht wiederholt. Um Richard von Weizsäcker zu zitieren: „Wer sich der Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.“ Heute, wo Synagogen und andere jüdische Einrichtungen streng bewacht werden müssen, wo antisemitische und rassistische Straftaten fast schon an der Tagesordnung sind, wo eine laut Bundesamt für Verfassungsschutz gesichert rechtsextreme Partei im Bundestag und in vielen anderen Parlamenten sitzt, deren führende Köpfe die Nazi-Diktatur als einen „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte bezeichnen und das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“ diffamieren, gilt das mehr denn je.
Klar ist aber auch: In nicht allzu langer Zeit werden keine Menschen mehr da sein, die aus erster Hand und aus eigenem Erleben Zeugnis ablegen können. Auf das Verstummen dieser Menschen müssen wir reagieren, um die Erinnerung lebendig zu halten. Dass dies unbedingt notwendig ist, zeigte eine Studie der Jewish Claims Conference. Demnach kennen zwölf Prozent der Erwachsenen zwischen 18 und 29 Jahren in Deutschland die Begriffe Holocaust und Shoah nicht. Und 18 Prozent glauben, es seien zwei Millionen oder weniger Juden ermordet worden. Tatsächlich waren es rund sechs Millionen.
Es gibt bereits viele gute Ansätze dafür. Die Erzählungen der Nachkommen der Zeitzeugen werden eine immer größere Rolle spielen. Virtuelle Realität und Künstliche Intelligenz können dabei helfen, Gespräche mit Überlebenden der Shoah lebendig und emotional unmittelbar erfahrbar zu halten. Und selbstverständlich gibt es Bücher und Filme. Die US-Serie „Holocaust“ und Steven Spielbergs Spielfilm „Schindlers Liste“ haben 1979 bzw. 1993 gezeigt, welche Wirkung sie entfalten können. Es reicht allerdings nicht, sie einmal im Unterricht zu zeigen und es dabei bewenden zu lassen.
Erinnerungsarbeit hört nie auf. Sie muss ständig geleistet werden. Einen unverzichtbaren Beitrag dazu liefern auch viele zivilgesellschaftliche Initiativen. Beispielhaft für die Region seien hier der Verein Gedenkbuchprojekt Aachen, der seit 25 Jahren die Namen und die Geschichten der Opfer des Holocaust im Grenzland zusammenträgt, und die Stolpersteine des Kölner Künstlers Gunter Demnig genannt. Sie sorgen maßgeblich dafür, dass Erinnerungskultur nicht zum Ritual erstarrt oder gar zum „Gedächtnistheater“ verkommt.
Denn die Erinnerung an diese Zeit ist unverzichtbar. Ohne sie entstehen Leerstellen, die mit gefährlichen Mythen und Lügen gefüllt werden können. Ohne sie ist unser freiheitliches System, das wir in den vergangenen 80 Jahren aufgebaut haben, gefährdet. Sie ist unerlässlich für den Bestand der Demokratie. Auch darauf weisen Menschen wie Leon Weintraub oder Henriette Kretz unermüdlich hin. „Bleibt wachsam“, mahnen sie.
Quelle: Aachener Zeitung, 10.5.2025