Gegen den Schlussstrich unter Nazi-Verbrechen

Prozesse gegen alt gewordene Schergen: „Müssen die sein?“, hieß die Frage beim „Ü-Wagen“ des WDR auf dem Markt in Aachen. Zahlreiche Gäste antworteten mit Ja. „Auch die angeblich Kleinen darf man nicht laufen lassen.“

Aachen. „Müssen die sein?“ Gemeint waren die voraussichtlich letzten NS-Prozesse in Deutschland, geführt gegen den ehemaligen SS-Mann Heinrich Boere in Aachen sowie gegen den KZ-Aufseher John Demjanjuk in München. „Der eine kommt im Rollstuhl, der andere auf dem Krankenbett in den Gerichtssaal“, so begann WDR-Moderatorin Julitta Münch die Sendung „Hallo Ü-Wagen“ auf dem Aachener Marktplatz. Thema: Ist es richtig, mehr als 65 Jahre nach den Gräueltaten „alte Männer um die 90“ vor ein Gericht zu stellen? Die große Mehrheit der am Samstagmorgen zahlreich erschienenen Zuhörer war überzeugt, dass die Verfahren heute noch richtig, ja absolut notwendig sind. Auch die Experten in der Diskussionsrunde, der Historiker Prof. Jost Dülffer (Köln), der auf NS-Gewaltopfer spezialisierte Traumatherapeut Gert Levy und die erfahrene Gerichtsberichterstatterin Ingrid Müller-Münch waren sich einig, dass Morde, die im Namen der NS-Ideologie begangen wurden, gesühnt werden müssen.

Dies schon deshalb, um für die noch lebenden Opfer oder für deren Nachfahren ein Zeichen der gesellschaftlichen Wiedergutmachung und des Nichtvergessens zu setzen. Besondere Kritik am späten Prozessbeginn sammelte insbesondere das Aachener Verfahren. Ein niederländisches Ehepaar, beide um die 70, war unter den Zuhörern, die Frau äußerte deutlich ihre Meinung: „Das hätte schon längst sein müssen, das Verfahren gegen den Boere, das rührt vieles wieder auf. Er muss bestraft werden, es geht um das Recht.“

Dem wegen Mordes an drei dem niederländischen Widerstand nahestehenden, ansonsten aber wahllos ausgesuchten Personen angeklagten SS-Mann hätte schon längst der Prozess gemacht werden müssen, war die einhellige Meinung. Doch die Justiz habe in den Jahrzehnten nach dem Krieg wenig dafür getan, thematisierte Journalistin Müller-Münch ein für manche Juristen bis heute heikles Thema.

„Die Täter sind Jahrzehnte gut weggekommen. Das wundert in den Nachkriegsjahren nicht; denn beispielsweise in NRW waren etwa 90 Prozent der Juristen in der NSDAP“, legte Müller-Münch den Finger in die offenen Wunden der Justiz. Heute komme eine neue Richtergeneration zum Zuge, das merke man.

In den Nürnberger Prozessen direkt nach dem Krieg (1946 bis 1949) wurden Nazi-Größen wie Göring oder Speer wegen Völkermords und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt und zum Teil hingerichtet. Dann aber habe sich in der Adenauer-Ära schnell „eine Schlussstrich-Mentalität“, so Müller-Münch, breit gemacht. Die Verfolgung von Nazi-Verbrechern wie Boere oder Demjanjuk wurden laut Müller-Münch immer wieder erschwert oder gar behindert, auch durch neue Gesetzgebungen. Aber es gelte nach wie vor: „Auch die angeblich Kleinen darf man nicht laufen lassen“, schließlich handele es sich um Mord.

Sie habe in Mammutverfahren wie etwa im Majdanek-Prozess (1975 bis 1982, Düsseldorf) in die Gesichter der Opfer und ihrer Angehörigen geschaut: „Sie waren froh, dass überhaupt jemand einmal aussprach, dass ihnen unglaubliches Unrecht widerfahren ist.“ Levy sprach als „Therapeut der Überlebenden“ von einer „zweiten und dritten“ Traumatisierung der überlebenden Opfer: „Sie haben noch über Jahrzehnte gelitten, ihnen ist zumeist nicht geholfen worden.“

Insbesondere für die nachfolgende und von der Nazizeit inzwischen weit entfernte heutige Generation sei es wichtig, so Bettina Offergeld vom Aachener „Gedenkbuch-Projekt“, wieder zu erfahren, was damals geschehen sei. „Das muss auf den Tisch, damit es die Chance zu einer Bereinigung gibt“, ermunterte auch Levy zur neuerlichen Vergangenheitsbewältigung.

Ü-Wagen-Gast Ulrich Giebel fand allerdings, dass die heutigen Prozesse gegen „kleine Täter“ das Gesamtverbrechen der Hitlerzeit bagatellisierten. Seine Argumentation blieb allerdings mehr oder weniger folgenlos.

Quelle: Aachener Nachrichten, 8. Februar 2010