Gedenkbuch 2008

Hermann Levy

Laura Bussmann, Hannah Daams, Linda Hilgers, Caroline Meyer, Linda Schaar und Lea Thiekötter (begleitet von Waltraud Felsch)

In dem Aachener Stadtteil Haaren, im Haus Friedenstraße 8, wurde am 01. Juni 1885 Hermann Levy als Sohn des Kaufmanns Isaak und seiner Frau Sibilla, geborene Herz, geboren. Er verbrachte dort im elterlichen Haus mit seinen vier Brüdern und seiner Schwester seine Kindheit und Jugend. Im Jahre 1907 wurde Hermann zum Militärdienst eingezogen. Er kämpfte im Ersten Weltkrieg an der Front, bis er 1915 in eine vierjährige Kriegsgefangenschaft geriet. Während der Gefangenschaft lernte er seinen späteren Schwager Joseph Keller kennen, zu dem er eine innige Freundschaft aufbaute, die auch nach ihrer Heimkehr im Jahre 1920 bestehen blieb.

Bei einem Wiedersehen mit Joseph lernte Hermann Josephs Verlobte Gertrud und deren Schwester Maria Iffert kennen. Hermann verliebte sich bald in Maria und wenig später heiratete er die Katholikin. 1922 brachte Maria ihren ersten Sohn Gert zur Welt. Die junge Familie zog in die Lothringer Straße 107 in die erste Etage. Gert bekam noch zwei Geschwister Marianne (*1927) und Rolf (*1929). Hermann hatte eine Ausbildung zum Kaufmann an einer kaufmännischen Schule in Wuppertal absolviert und war zu dieser Zeit als Handelsvertreter für Stoffe und Miederwaren tätig.

Doch für die junge Familie Levy änderte sich das Leben drastisch, als 1933 der Judenboykott begann. Die Kunden zogen sich zurück und die Einnahmen wurden immer geringer. Schon bald konnte Hermann die Miete nicht mehr bezahlen und er war gezwungen, mit seiner Familie in eine kleinere Wohnung in die Talstraße umzuziehen. Als auch dafür das Geld nicht mehr reichte, nahm die jüdische Gemeinde die Familie in einem Nebengebäude der Synagoge in der Promenadenstraße auf. Hermanns Kinder besuchten die jüdische Schule am Bergdriesch.

Immer häufiger wurde von Flucht oder Emigration gesprochen. Der Schwager Joseph riet Hermann sehr dringend zur Flucht. Fliehen aus dem eigenen Land, vor seinen eigenen Landsleuten? Hermann war hin und her gerissen. Doch letztlich beschloss er irgendwann im Jahre 1938, zum Schutz seiner Familie und auch zu seinem Schutz Deutschland zu verlassen. Er wollte zunächst alleine nach Brüssel ziehen, wo sein Bruder Albert schon dabei war, sich eine neue Existenz aufzubauen. Frau und Kinder sollten nachfolgen, wenn er dort eine Wohnung gefunden hatte.

Der Abend vor dem Abschied war besonders feierlich bei der Familie Levy. Sie feierten den Abschiedsabend wie einen Sederabend. (Das ist der festliche Abend, mit dem die jüdischen Menschen Jahr für Jahr der Befreiung des israelitischen Volkes aus der ägyptischen Knechtschaft gedenken.) Seine Frau stand den ganzen Tag in der Küche und bereitete das Essen vor. Die Kinder waren überrascht, ihren Vater im Gebetsgewand zu sehen. Es gab ungesäuertes Brot, das sie in Salzwasser tauchten, und bittere Petersilie. Zusammen beteten sie und lasen Geschichten aus der Bibel. Der Abend blieb für den damals achtjährigen Rolf unvergesslich.

Die Flucht begann mit einem Fußmarsch durch den Aachener Wald bis nach Welkenraedt. Um nicht von den deutschen oder den belgischen Grenzbeamten aufgegriffen und zurück geschickt zu werden, traute sich die Familie – die drei Kinder und ihre Mutter begleiteten Hermann zunächst noch – erst dort, in den Zug zu steigen. Mit dem Zug ging es bis nach Lüttich, wo Hermann sich von seiner Familie auf erst einmal unbestimmte Zeit trennte. Maria fuhr mit den Kindern zurück nach Aachen. Ihr drohte vorerst keine Gefahr, als so genannte Arierin hatte sie noch nichts zu befürchten. Hermanns Weg führte von Lüttich weiter nach Brüssel, wo er mit Hilfe seines Bruders Albert bald eine Wohnung in der Rue du Palais 170 in Bruxelles-Schaerbeek fand.

Die Sachen für die Flucht der restlichen Familie waren schon fast alle gepackt, als Maria und die Kinder ein paar Tage später von der Gestapo aufgesucht wurden. Man müsse ihr ihre Kinder wegnehmen, wenn diese nicht bald das Land verlassen hätten, drohte man Hermanns Frau. Für sie kam eine Trennung von den Kindern nicht in Frage. Deshalb beschleunigte sie die Abreise, und schon am nächsten Abend war die Familie bei Hermann in Brüssel wieder vereint. Die Kinder gingen bald in Brüssel zur Schule und fanden dort neue Freunde. So verging einige Zeit und die Familie Levy lebte ein ganz normales Leben, bis sie 1940 auch in Belgien nicht mehr sicher waren.

Am 10. Mai 1940 marschierten in Belgien deutsche Truppen ein. Am selben Morgen kam die belgische Polizei in die Wohnung, angeblich nur um die Papiere zu kontrollieren. Vielleicht wäre Hermann gar nichts passiert, hätte er die Türe nicht geöffnet. Doch so nahm der Polizist ihn mit. Auch sein ältester Sohn Gert wurde verhaftet, als er einem Aufruf folgte, dass alle deutschen Männer und Jungen über 16 sich zur Überprüfung der Papiere auf der Polizeiwache melden sollten. In den Augen der Belgier waren die Levys feindliche Deutsche.

Völlig überrascht und brutal aus dem Alltagsleben gerissen, wurden Hermann und Gert Levy mehrere Tage mit mehr als 70 Menschen in einen stinkenden, engen Viehwaggon mit zugenagelten Luken, der normalerweise für 10 Pferde bestimmt war, eingepfercht und in Richtung Frankreich transportiert. Viele Gefangene waren bewusstlos, da es während der ganzen Zeit weder Verpflegung noch Wasser gab und die Türen niemals geöffnet wurden. Bei der Ankunft in der Normandie wurden den Männern alle persönlichen Dinge und Wertgegenstände abgenommen. Aber Hermann behielt und versteckte seinen Ehering. Der Gedanke an seine Frau, die ihn auch in diesen Zeiten nicht verlassen hatte, gab ihm Kraft.

Auf vielen Umwegen und mit kurzen Aufenthalten in mehreren Lagern in Frankreich kamen sie in das südfranzösische Internierungslager St. Cyprien. Sich dort aufzuhalten, war die Hölle. Es herrschten unerträglich heiße Temperaturen und es wimmelte von Mücken und Fliegen. Die Gefangenen litten Hunger, bekamen oft lediglich verschimmeltes Brot zu essen, viele von ihnen wurden krank. (Gert, der fliehen und in Frankreich untertauchen konnte, hat später einen ausführlichen Bericht über den Transport und die Zustände in St. Cyprien geschrieben.)

Währenddessen zogen Maria und die zwei Kinder mit einem Flüchtlingszug auf der Flucht vor den deutschen Truppen nach Villefranche in der Nähe von Toulouse. Trotz der Fürsprache von François Bacou, einem hilfsbereiten Franzosen, wurden sie schließlich in das große Internierungslager in Clairfont gebracht. Dort waren sie eingesperrt. Doch der jüngste Sohn Rolf fand ein Loch im Zaun, und manchmal brachte er von seinen Streifzügen in der Umgebung etwas Essbares von den umliegenden Bauernhöfen mit.

Herr Bacou konnte sie vor dem Lager nicht bewahren. Er schickte aber für Hermann Levy so genannte Befreiungsbriefe in das Lager St. Cyprien, in dem Hermann und Gert festgehalten wurden. Doch diese Briefe wurden dort von der Lagerleitung nie geöffnet. Dabei baute Hermann darauf, auf Dauer als von den Deutschen verfolgter Jude in Frankreich nicht verfolgt sondern geschützt zu werden, und unternahm deshalb keinen Fluchtversuch. Er empfand die Franzosen nicht als seine Feinde und rechnete fest damit, eines Tages entlassen zu werden und frei zu sein. Anders als sein Sohn Gert, der floh und überleben konnte.

Später wurde Hermann in das Männercamp Récébédou gebracht. Es lag unweit des Internierungslagers, in dem die Familie lebte. So bekamen sie die Erlaubnis, dass Maria alle 14 Tage mit je einem Kind ihren Mann besuchen konnte. Dabei musste sie aber auch ein bewaffneter Polizist begleiten. Es kam nur zu zwei solchen Besuchen. Beim zweiten Mal durfte Rolf die Mutter begleiten. Es war das letzte Mal, dass er seinen Vater sah. Neben seinem Vater hielten sich in dem Bretterverschlag noch viele weitere Männer auf. Hermann betete mit seinem jüngsten Sohn. Zum Abschied nahm er ihn in die Arme und drückte ihn fest. Er fing an zu weinen. Ahnte er, dass es ein Abschied für immer sein sollte? Dem damals 13-jährigen Rolf wird dieser Moment immer in Erinnerung bleiben.

Kurz danach wurde bekannt, dass das Internierungslager, wo Maria mit den Kindern lebte, geräumt werden und sie in ein anderes Lager umgesiedelt sollten. Doch Maria hörte zufällig den Verdacht, dass das gesamte Lager nach Deutschland deportiert werden sollte. Dort wollte sie auf keinen Fall hin zurück. Sie schmiedete einen Plan: Die Kinder sollten lange herum trödeln beim Packen, so dass sie die Letzten im Lager sein würden. Dann schlichen sich die drei Levys durch das kleine Loch im Zaun, das Rolf gefunden hatte, in die Freiheit. Wie sich später herausstellte, hatte diese kühne Flucht ihnen das Leben gerettet. Alle Gefangenen des Lagers Clairfont wurden in die Vernichtungslager im Osten deportiert und die meisten wurden dort ermordet.

Maria und ihre beiden jüngsten Kinder gelangten zuerst zu Fuß, später mit der Bahn zurück nach Villefranche bei Toulouse, wo M. Bacou ihnen noch einmal half, Unterschlupf auf einem Bauernhof zu finden. Dort wohnten sie bis zur Befreiung Frankreichs Ende 1944.

Hermann wurde vermutlich noch in mehrere andere Lager verlegt. Es existiert eine Liste von Lagerinsassen aus Gurs, wo sein Name mit Geburtsdatum und Geburtsort aufgeführt ist und wo erwähnt ist, dass er aus dem Lager Nexon nach Gurs gekommen ist. Von Gurs aus wurde er am 27. Februar 1943 nach Drancy gebracht. Am 04. März ging der Transport 50 und zwei Tage später der Transport 51 nach Sobibor. Alle aus Gurs nach Drancy transportierten Juden waren bei einem dieser Transporte dabei. Einige wenige Überlebende dieser beiden Transporte berichteten später, dass fast alle Menschen in Sobibor sofort nach der Ankunft in die Gaskammern geführt wurden.

So wurde im März 1943 auch Hermann Levy ermordet.